Tiroler heiraten nach Kestrich – 1666 bis 1675
Im alten Kirchenbuch von Groß-Felda im ehemaligen Kreis Alsfeld sind mehrmals Heiraten und Begräbnisse von Ortsfremden eingetragen. Zu den „ganz Fremden“ rechnen die hier zu behandelnden Tiroler, die in Kestrich (heute Ortsteil von Feldatal) geheiratet haben. Meist waren es Bauhandwerker, die aus armen Gebieten Tirols ins „Reich“ und somit auch nach Hessen zogen, und zwar vorwiegend als Saisonarbeiter, nur selten als Auswanderer. In der Regel verließen diese Burschen und Männer im Frühjahr oder zu Sommersanfang ihre Heimat und wanderten im Herbst zurück.
Diese frühen Gasthandwerker kamen, um in der Fremde Geld zu verdienen, in den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Kriege, als hier viele Kriegsfolgen an Gebäuden zu beseitigen waren. Im allgemeinen reisten sie in (mittleren oder kleinen) Gruppen, die zur gleichen Familie bzw. Sippe gehörten oder aus demselben Dorfe stammten, sozusagen um sich gegenseitig zu schützen. Nicht selten hatten sie auch gleiche Zielräume („ihren Gäu“), manchmal zog einer hinter dem anderen her, so daß sich gleichsam Nester bildeten oder kleine Kolonien entstanden.
Am 9. November 1666 sind zu Windhausen „copuliret worden, und haben daselbsten ihren offentlichen Kirchgang gehabt. Valentin Bachman bürtig auß der Graffschafft Tyrol und Veronica, Hanß Recken hinderlaßene Witwwe zu Kestrich, ist vor der Einsegnung die fleischliche Vermischung hergegangen. Da dan Veronica hernach ihre Kirchenpoenitentz geleistet und die absolution empfangen. Valentin aber, so der Papistischen (d. h. kath.) Religion zugethan gewesen, ist zwar treulich vermanet worden, von der päpstlichen Religion abzutretten, unsere reine Seligmachende Religion anzunehmen, die Kirchenpoenitentz zu leisten und die absolution zu empfangen. Hat aber Solches zu thun verwegert“. Nach der Bußliste im älstesten Kirchenbuch hat die Witwe am 2. Juli in der Kirche zu Windhausen Pönitenz getan, „nachdem sie sich von einem Maurer auß Tyrol hat Schwängern lassen“. Wie alt der Bräutigam bei seiner Heirat war, ist nicht festzustellen; das Alter der Frau erfahren wir bei ihrem Tode: Veronika, Valentin Bachmanns Hausfrau in Kestrich, wurde 51jährig am 18. Februar 1682 begraben. Der Witwer heiratete am 14. Juni 1683 zu Kestrich Christina, die Tochter des Schultheißen Johannes Diem.
Hier handelt es sich also um einen Maurer, der aus einer ungenannten Gegend Tirols gekommen war. Im Gegensatz zu der Witwe, mit der er das Verhältnis gehabt hatte, weigerte er sich, die Buße öffentlich zu vollziehen; auch trat er nicht zum Protestantismus über, blieb also katholisch, obwohl er nach den Gesetzen der Zeit („cuius regio, eins religio“) der vorgeschriebenen Kindererziehung zustimmen mußte. Man darf annehmen, daß er im Dorf akzeptiert war, denn er heiratete als Witwer eine Schultheißentochter. Am 24. Juni 1668 „ist Merten Nick auß Tyrol aus dem Gericht Berbet (?) und Veronica, Johannis Hartmanns hinderlassene Tochter zu Kestrich copuliret worden, und haben zu Windhausen ihren öffentlichen Kirchgang gehabt“. Er war damals ein junger Mann, denn als er am 28. Februar 1678 begraben wurden, zählte er nur 32 Jahre. Die Eheleute hatten mehrere Töchter, von denen zwei jung starben. Im Alter von etwa 30 Jahren heiratete die hinterlassene Tochter Veronika am 26. Januar 1701 in Groß-Feida Johann Jost Seippei, also einen Einheimischen; die Braut war am 20. Juni 1671 geboren, ihre „Göttel“ (Taufpatin) war eine Ansässige, Veronika Lang, des Haupenmüllers Hausfrau, die dem Kind auch ihren Namen gegeben hatte.
Eventuell war er mit seinem Bruder (und anderen?) den Winter über im nördlichen Vogelsberg geblieben, denn im Jahr seiner Hochzeit starb ein anderer Nick, in Groß-Feida begraben, und zwar schon am 5. März 1668. Es war der 24jährige Matthäus Nick „auß Tyroln“. Ähnliche Fälle sind aus anderen Orten bekannt, z. B. aus dem damals fuldischen Städtchen Herbstein, ebenfalls im Vogelsberg.
Am 18. November 1675 „haben zu Windhausen ihren offentlichen Kirchgang gehabt und sind copuliret worden Barthol Steger, Michael Stegers von Sambß aus Tyrol eheleiblicher Sohn, und Magdalena, Johannis Dauben zu Kestrich eheleibliche Tochter“. Beide waren noch jung, als sie heirateten. Schon am 28. August 1678 wurde B. Steger zu Kestrich begraben, und zwar im Alter von 26 Jahren, die Witwe war erst 23 Jahre und 24 Wochen alt, als sie am 10. Februar 1679 auch begraben wurde. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Herkunftsort des Tirolers um Zams, das (in 775 m Höhe) nahe bei Landeck liegt. Aus der Gegend könnte auch M. Nick stammen, denn 1699 wurde in Bad Soden (Salmünster) ein Genuin Nick aus Fließ getraut; dieser Ort liegt im obersten Inntal nur 6 km von Landeck.
Quelle: Alfred Höck in Heimatbuch Feldatal, 1981
Menschen auf der Landstraße – 1667 bis 1685
Nicht nur in den Jahrzehnten nach dem 30jährigen Kriege zogen Menschen „ohne festen Wohnsitz“ in großer (wenn auch unbestimmbarer) Zahl über Land, die also kein Dach über dem Kopfe hatten. Abgesehen von Einzelwanderern waren es oft Familien oder kleinere Gruppen, die Gaben und Unterkunft suchend unterwegs waren. Nur ein Teil von ihnen waren wandernde Gesellen oder Arbeit suchende Handwerker; oft ist an eheliche Soldaten und Flüchtlinge verschiedener Art zu denken.
Die Fälle von Trauungen Ortsfremder werden hier weggelassen. Dafür beginnt die Auswahl mit der Taufe eines Bettlerkindes: „Den 4. Dag Aprilis (1669) ist Niclaß Leighein (?) auß dem Braunschweigerland, so gebettet und von Dorff zu Dorff geführet worden, ein töchterlein getauffet worden.“ Namen und Paten hat der Pfarrer gar nicht eingetragen.
Aus der Totenliste sind die folgenden Beispiele entnommen. Zunächst das traurige Schicksal eines jungen Wollwebers aus Stuttgart: „Den 13. Dag Martii 1667 ist alhier begraben worden Hanß Georg Röder, ein Wüllemvebers gesell von Stutgart auß dem Würtenberger landt, So zu Herßfeld kranck geworden, und von Dorff zu Dorff kranck geführet worden, hat alhier das Hl. Abendmahl empfangen, und hat alhier zu Felda Drey Wochen und 4 Dag kranck gelegen an der Schwindsucht, woran er auch gestorben den 11. Martii des Abends umb 9 Uhr. Seines alters 18 Jahr.“ Wahrscheinlich hatte Röder in der Tuchmacherstadt Hersfeld vorübergehend Arbeit gefunden, doch als er krank geworden war, fühlte sich niemand mehr für ihn zuständig. Als fremder Hilfsbedürftiger hat er dann an einem anderen Ort sein letztes Lager gefunden.
Am 29. Oktober 1673 „ist ein armer Man, nahmens Hans Spiel (?), under dem Marggraffen zu Moßbach (?) zu hauß, alhier begraben worden, seines alters 84 Jahr“. Auch dieser Greis hatte anscheinend nirgends Unterkunft in einem Hospital gefunden; wie meistens erfahren wir nicht den Grund für das unstete Leben, ein Dasein „ohne bleibende Statt“.
Beispiele für das Geschick vieler Kinder gerade in den hier in Betracht kommenden Gruppen sind diese beiden Fälle. Am 17. Januar 1685 „ist Johann Henrich Mengesen, einem abgedanckten Soldaten, bürdig in Busleben (?) unterm Graffen von Schwartzburg gelegen, ein söhnlein begraben worden, namens Johann Daniel, seines alters 3 monat und 3 wochen“. Nur einen Monat später (24. Feburar) „ist Sebastin Bellern einem armen man bey Nürnberg zu hauß, itzo aber zu Windhausen sich auffhaltend, nahmens Anna Dorothea begraben worden“, das Töchterchen war ebenfalls nur ein Vierteljahr alt.
Lange Zeit ist die unbewiesene Meinung weitergegeben worden, „früher“ seien die Leute seßhafter gewesen, in stabiler Ordnung hätte „der Mensch“ in festen Gemeinschaften seinen Platz gehabt. Dabei sind nie genügend die manchmal beträchtlichen Randgruppen und Außenseiter der Gesellschaft berücksichtigt worden. Bettler, Kranke, Vertriebene z. B. zogen oft in Scharen über Land. „Der Fremde“ ist eine Gestalt, die mit einem besonderen Schicksal verbunden ist. Schon diese kleine Auswahl aus wenigen Jahrzehnten, aus dem Blickwinkel eines nur abgelegenen Dorfes, zeigt eine wenig beachtete Erscheinungsform von regionaler Mobilität (in diesem Falle) innerhalb des 17. Jahrhunderts.
Quelle: Alfred Höck in Heimatbuch Feldatal, 1981